Wenn eine knappe Mehrheitsentscheidung nicht weiterhilft

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Das Prinzip »Der oder die Klügere gibt nach« sollte keine Lösung sein. Dann schon eher die Suche nach einem Kompromiss. Aber was, wenn mit ihm keiner richtig zufrieden ist? Dann besser: ein weitgehender Konsens.
Das ist Alltag im Kirchenvorstand: Nach einer mehr oder weniger ausführlichen Diskussion kommt der Punkt, an dem eine Entscheidung gefällt werden muss. Ziel ist eine für alle Beteiligten gute Lösung, die umgesetzt wird und Wirkung entfaltet. Das klingt einfach – und meistens ist es das auch.
Grenzen der Mehrheitsentscheidung
Als gute Demokraten haben wir gelernt, dass in einem Gremium eine Mehrheitsentscheidung zu akzeptieren ist. Vorschläge werden gemacht, Argumente ausgetauscht und Mehrheiten gesucht – dann wird abgestimmt. Meist reicht die einfache Stimmenmehrheit. Ein Patt kann vermieden werden, wenn die Zahl der Stimmberechtigten ungerade ist. Alles in allem sind das wichtige und bewährte demokratische Spielregeln – auch in kirchlichen Gremien. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass diese demokratische Kultur – auch in der Kirche – ein hohes Gut und alles andere als selbstverständlich ist.
Wie kann es dann passieren, dass manche Mehrheitsentscheidungen trotzdem große Unzufriedenheit nach sich ziehen, schleppend oder nicht umgesetzt oder gar boykottiert werden?
Bei einer Mehrheitsentscheidung zählt jede Stimme gleich – ein »leichtes Ja« zählt wie ein »starkes Nein«, ein »meinetwegen« eben so viel wie ein »nicht mit mir“. Die Anliegen und Erfahrungen der Minderheit gehen nicht in die Lösung ein. Statt Konflikte zu lösen wird überstimmt. Folge ist die Teilung in Sieger und Verlierer. Dass die in der Abstimmung Unterlegenen wenig Interesse und Lust haben, das Abstimmungsergebnis mit zu tragen, liegt auf der Hand. Als logische Konsequenz des Mehrheitsprinzips kommt die Minderheit nicht zum Zug. Wenn es immer die gleiche Minderheit trifft, kündigen Hauptberufliche innerlich und Ehrenamtliche schmeißen hin.
Alternativen zur Mehrheitsentscheidung
Was tun? Das Prinzip »Der oder die Klügere gibt nach« kann kaum eine Lösung sein. Dann schon eher die Suche nach einem Kompromiss. Positiv an einem Kompromiss ist in jedem Fall, dass sich alle Beteiligten einbringen können, gemeinsam ringen und Zugeständnisse machen. Alle machen Abstriche an ihrer Position, man trifft sich mehr oder weniger »in der Mitte«. Aber was, wenn keiner so richtig zufrieden ist mit dem gefundenen Kompromiss? Was, wenn die Unzufriedenheit der Beteiligten mit einem möglicherweise »faulen« Kompromiss bleibt oder gar wächst?
Dazu ein Beispiel: Zwei Schwestern streiten um einen Kürbis. Es gibt nur einen und jede hätte ihn gerne für sich. Der Kompromiss wäre nun – richtig! – den Kürbis zu teilen. Natürlich gerecht in zwei gleich große Hälften. Aber keine der beiden Schwestern wäre mit dem Ergebnis zufrieden. An dieser Stelle kommt die Suche nach einem Konsens ins Spiel: Eine genauere Nachfrage ergibt nämlich, dass die Beweggründe und Interessen der beiden Schwestern höchst unterschiedlich sind: Die eine möchte aus dem Kürbisfruchtfleisch gerne eine leckere Suppe kochen und die andere benötigt den hohlen Kürbiskopf um eine Maske zu schnitzen. Das lässt sich arrangieren. So bekommt jede der Schwestern zu 100% das Gewünschte – eine klassische Win-Win-Situation.
Der dritte Weg
Der Schlüssel zur Lösung ist hier die Frage nach Beweggründen und Interessen. Der Austausch darüber weckt Phantasie für einen dritten Weg, der bisher nicht im Blick war. Die beiden bekannten »Lösungen« (eine bekommt alles oder jede bekommt die Hälfte) wird ergänzt durch eine neue dritte Lösung, die beide Seiten voll und ganz zufrieden stellt, den Konsens.
Was heißt Konsens?
»Wir verwenden den Begriff Konsens in dem Sinne, dass wir damit ein Entscheidungsverfahren bezeichnen, an dessen Ende eine Entscheidung steht, die alle Beteiligten mittragen können. Das bedeutet, dass auch unterschiedliche Meinungen durch das Konsensmodell zu einem Beschluss zusammengebracht werden können, ohne die Unterschiede zu übergehen.
Das Schlüsselwort des Mittragens dieser Definition sagt aus: Ich bin mit dem Ergebnis einverstanden und kann es vor mir selbst und vor anderen vertreten.
Ein Konsens ist formal dann erreicht, wenn keine Person, die von einer Entscheidung betroffen ist ein Veto einlegt. Zwischen diesem Minimalziel und einer annähernd 100%igen Zustimmung hält das Konsensmodell differenzierte Stufen der Zustimmung bereit. Ziel des Konsensverfahrens ist, einen möglichst hohen Grad der Zustimmung zu erreichen.« (Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden, Konsens. Handbuch zur gewaltfreien Entscheidungsfindung, S. 13.)

Die moderierte Suche nach einem Konsens, also das Konsensieren, braucht einen Moderator oder eine Moderatorin, der oder die sich inhaltlich nicht einmischt und darauf achtet, dass alle Beteiligten ihre Interessen so gut wie möglich zur Geltung bringen können. Diese Haltung ist allparteilich und teilt die Auffassung, dass jeder Mensch mit seiner Meinung gleich wertvoll ist. (Das Amt für Gemeindedienst der Evang.-Luth. Kirche in Nürnberg bietet Konsensmoderation für Kirchenvorstände an z.B. im Rahmen eines Klausurtages. Kontakt über gemeindeentwicklung@afg-elkb.de).

Der Mehrwert
Schnell wird klar, dass das Konsensieren einige Gesprächsrunden mehr benötigt als eine Mehrheitsentscheidung. Es braucht Zeit, den eigenen Zugang zum Thema, die eigene Geschichte mit dem Thema, die eigene Motivation und damit das »was einem am Herzen liegt« untereinander auszutauschen und wahrzunehmen. Diese Gesprächs-Zeit ist gut investierte Zeit. Die vertiefte gegenseitige Wahrnehmung der beteiligten Personen knüpft ein qualifiziertes Netz an Beziehung und Verständnis füreinander – ohne selbst vereinnahmt zu werden oder das Gefühl zu bekommen, »auf Kurs gebracht« zu werden. Wenn ich weiß, was die anderen treibt, was ihnen am Herzen liegt, fällt es leichter, unterschiedliche Auffassungen zu akzeptieren und eine Vielfalt an Zugängen und Meinungen auch als Mehrwert anstatt als Irritation oder gar Bedrohung zu verstehen. Dieses »Wissen voneinander« wird mit der Zeit den Prozess des Konsensierens verkürzen, da die Beteiligten zunehmend mehr über die Haltung und die Anliegen der anderen erfahren. Zudem schafft diese vertiefte Wahrnehmung eine tragfähige Basis für die nachhaltige Umsetzung der getroffenen Vereinbarung: Es ist höchst unwahrscheinlich, dass eine im Konsens getroffene Entscheidung im Nachhinein torpediert oder boykottiert wird. Damit wirkt eine konsensierte Entscheidungsfindung konfliktpräventiv und spart womöglich am Ende sogar Zeit und Energie und schont die Nerven: Anstatt sich an quälenden Folgekonflikten abzuarbeiten, wird die Zeit im Vorfeld der Entscheidung in die Suche nach einem Konsens investiert. Schritte der Konsensmoderation: »Entscheidungsfindung durch Konsens strebt eine Lösung an, die von der ganzen Gruppe getragen werden kann, weil alle Gruppenmitglieder an ihr beteiligt waren und sich darin wiederfinden. Die Gruppe unternimmt nichts, womit nicht alle einverstanden sind.« (Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden, Konsens. Handbuch zur gewaltfreien Entscheidungsfindung, S. 40.)
Folgende Schritte haben sich bei der Suche und dem Finden eines Konsens bewährt:
  1. Gegenstand klären (Problem klären; Entscheidungsfrage formulieren)
  2. Meinungen offen legen (Runde mit Meinungsäußerungen zum Thema; Interessen, Wünsche und Bedürfnisse offen legen)
  3. Lösungsvorschläge entwickeln (Sammlung von Lösungsvorschlägen; Diskussion der Lösungsvorschläge)
  4. Konsens herausarbeiten ( Konsensvorschlag/-vorschläge herausarbeiten; Runde mit persönlicher Bewertung des Konsensvorschlages nach Konsensstufen)
  5. Konsens. Wenn nicht: zurück zu 3.

Systemisches Konsensieren
Wird eine Entscheidung klassisch über das Mehrheitsprinzip herbeigeführt, können die Beweggründe für das Vorbringen oder Ablehnen eines Vorschlages aus taktischen Gründen im Dunkeln bleiben. Für bestmögliche Transparenz kann hier das Verfahren des systemischen Konsensierens sorgen: Kurz gesagt entwickelt die Gruppe verschiedene Vorschläge und wählt den aus, der dem Konsens am nächsten kommt. Mit einem geeigneten Verfahren wird der individuelle persönliche Grad des Widerstandes und der Gesamtwiderstand der Gruppe sichtbar gemacht und am Ende der Vorschlag angenommen, der den geringsten Widerstand und damit auch das geringste Konfliktpotenzial erzeugt. Vorschläge, die von vornherein die Bedürfnisse vieler berücksichtigen, haben damit leichter die Chance konsensfähig zu werden als egoistische Einzelinteressen.
Konsensmoderation – immer und überall?
Im kirchlichen Raum werden erste ermutigende Erfahrungen mit der Methode »Konsensmoderation« z.B. in Kirchenvorständen gemacht. Gerade schwierige, umstrittene oder gefühlsbesetzte Themen können mit ihrer Hilfe bearbeitet und langfristig tragfähige Lösungen gefunden werden. Aber auch Grenzen werden sichtbar: Der Zeitaufwand ist höher oder die Konsenssuche kann ergebnislos bleiben, wenn die Beteiligten nicht bereit sind, sich auf die Argumente anderer einzulassen.


Pfarrer Martin Simon, Referent für Kirchenvorstandsarbeit im afg